Öffentliches Baurecht


Bebauungsplan und Anspruch auf Erschließung entgegen § 123 Abs. 3 BauGB

BVerwG, Beschluss vom 15.06.2022 - 9 B 32.21 -

Kurze Inhaltsangabe:

 

Der Kläger begehrte von der Beklagten die Durchführung von Erschließungsmaßnahmen für sein Grundstück, damit er seine Ausfahrt wegegerecht benutzen könne. Das Verwaltungsgericht wies nach Ortstermin die Klage ab. Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) war hier anderer Ansicht und verurteilte die Beklagte, geeignete Maßnahmen zur Herstellung der wegemäßigen Erschließung des klägerischen Grundstücks zu ergreifen. Die dagegen erhobene Nichtzulassungsbeschwerde wurde vom BVerwG zurückgewiesen.

 

Grundsätzlich bestünde kein Rechtsanspruch auf Erschließung nach § 123 Abs. 3 BauGB, obwohl die Erschließung Sache der Gemeinde ist, § 123 Abs. 1 BauGB. Allerdings könne sich nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) eine gemeindliche Erschließungsaufgabe zu einem korrespondierenden Anspruch und damit eine Erschließungspflicht verdichten. Diese Verdichtung läge vor, wenn sich die Gemeinde nach Erlass des qualifizierten Bebauungsplanes entschließe, den Plan zwar nicht aufzuheben, aber von der Durchführung der Erschließung abzusehen (BVerwG, Urteil vom 22.01.1993 - 8 C 46.91 -). Hier habe der VGH darauf abgestellt, dass seit Erlass des nach wie vor wirksamen (Änderungs-) Bebauungsplanes ohne dessen Vollzug vergangen seien und daher(beanstandungsfrei) den Erschließungsanspruch anerkannt.

 

Vorliegend war zusätzlich zu berücksichtigen, dass sich der klägerische Anspruch auf einen aus einem Änderungsbebauungsplan ableitete. Das fragliche Flurstück sei zum Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigung hinreichend erschlossen gewesen. Vorliegend gehe es lediglich um einen weitergehenden Erschließungsanspruch („ungehinderte Zufahrt … ohne Erschwernis“) gemäß dem Änderungsbebauungsplan. Diesen Anspruch auf ergänzende Erschließung (aufgrund eines seit Jahren nicht vollzogenen) Änderungsbebauungsplanes sah das BVerwG mit dem VGH auch als gegeben an, wenn im Übrigen bereits eine Erschließung vorlag.

 

Bereits in seinem vom BVerwG in der besprochenen Entscheidung benannten Urteil vom 22.01.1993 - 8 C 46.91 - führte das BVerwG zur möglichen Verdichtung des Erschließungsanspruchs aus (Leitsatz 5):  „Eine Gemeinde, die einen qualifizierten Bebauungsplan erlassen hat, dann jedoch erkennen muß, aus wirtschaftlichen Gründen zur Erschließung außerstande zu sein, kann ein Angebot der Erschließung durch die Betroffenen, dessen Annahme weder aus sachlichen noch persönlichen Gründen unzumutbar ist, nicht ablehnen, ohne dadurch selbst erschließungspflichtig zu werden.“

 

Aus den Gründen: 

 

Tenor

 

Die Beschwerde des Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 30. Juni 2021 wird zurückgewiesen.

Der Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3 000 € festgesetzt.

 

Gründe

 

I

 

Der Beigeladene wendet sich gegen die Verurteilung der Beklagten zur Durchführung von Erschließungsmaßnahmen auf seinem Grundstück. Der Kläger, der Eigentümer eines Wohngrundstücks ist, begehrte von der beklagten Stadt Maßnahmen zur Herstellung einer funktionsgerechten wegemäßigen Erschließung für die Ausfahrt aus seiner Garage. Das Verwaltungsgericht wies die Klage nach Durchführung eines Ortstermins ab. Der Verwaltungsgerichtshof lud den Eigentümer des Nachbargrundstücks zum Verfahren bei und verurteilte die Beklagte, geeignete Maßnahmen zur Herstellung der wegemäßigen Erschließung des klägerischen Grundstücks auf dem Grundstück des Beigeladenen entsprechend den Festsetzungen des 1992 erlassenen Änderungsbebauungsplans zu ergreifen.

 

II

 

Die gegen die Nichtzulassung der Revision gerichtete, auf die Zulassungsgründe nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde des Beigeladenen, der sich die Beklagte ohne eigene Antragstellung inhaltlich angeschlossen hat, bleibt ohne Erfolg.

 

1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Grundsätzlich bedeutsam im Sinne dieser Vorschrift ist eine Rechtssache nur, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Den Darlegungen der Beschwerde (vgl. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO) lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen hier erfüllt sind.

 

Der Beigeladene hat schon keine allgemein zu beantwortende, klärungsfähige Rechtsfrage formuliert. Sollte dem Beschwerdevorbringen die Frage nach den Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erschließung nach § 123 BauGB i. V. m. § 242 BGB zu entnehmen sein, zeigt auch dies keinen grundsätzlichen Klärungsbedarf auf. Diese Frage ist - soweit sie einer fallübergreifenden Klärung zugänglich ist - in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bereits geklärt. Ein Rechtsanspruch auf Erschließung besteht nach § 123 Abs. 3 BauGB grundsätzlich nicht; die gemeindliche Erschließungsaufgabe kann sich aber nach Treu und Glauben zu einer mit einem korrespondierenden Anspruch verbundenen Erschließungspflicht verdichten. Dies ist der Fall, wenn sich die Gemeinde nach Erlass eines qualifizierten Bebauungsplans entschließt, den Plan zwar nicht aufzuheben, aber von der Durchführung der Erschließung abzusehen (stRspr, vgl. nur BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1993 - 8 C 46.91 - BVerwGE 92, 8 <20 ff. und LS 3>). Der ohne Begründung erhobene Einwand des Beigeladenen, der Erschließungsanspruch könne keinem einzelnen Bürger, sondern "bestenfalls insgesamt einer Gruppe betroffener Bürger" zustehen, steht in klarem Widerspruch zu der genannten Rechtsprechung (vgl. BVerwG, Urteil vom 28. Oktober 1981 - 8 C 4.81 - BVerwGE 64, 186 <189>) und ist nicht geeignet, diese in Frage zu stellen.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat unter Heranziehung der genannten Maßstäbe einen Erschließungsanspruch des Klägers mit der Begründung bejaht, dass seit dem Erlass des nach wie vor wirksamen Änderungsbebauungsplans der Beklagten annähernd dreißig Jahre ohne dessen Vollzug vergangen waren. Soweit der Beigeladene unter Hinweis auf vom Gericht zugrunde gelegte "falsche Tatsachen" demgegenüber vorbringt, das Grundstück des Klägers sei seit jeher ausreichend erschlossen gewesen, betrifft dies keine grundsätzlich zu klärende Rechtsfrage, sondern lediglich eine abweichende Würdigung der Umstände im Einzelfall.

 

2. Ein Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist nicht in einer den Anforderungen von § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechenden Weise dargelegt. Der Beigeladene trägt vor, der Verwaltungsgerichtshof habe die Durchführung einer notwendigen Ortsbesichtigung versäumt und entgegen einem von ihm gestellten Antrag auf Augenschein einen falschen Sachverhalt unterstellt. Aus den erstinstanzlichen Feststellungen sowie den im Berufungsverfahren vorgelegten Fotografien ergebe sich, dass das Grundstück des Klägers ausreichend erschlossen sei; dies habe der Verwaltungsgerichtshof verkannt.

 

a) Mit dieser Rüge zeigt die Beschwerde keinen - sinngemäß gerügten - Verstoß gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO auf. Zu Unrecht beruft sich der Beigeladene in diesem Zusammenhang auf einen in der Berufungsinstanz angebrachten Beweisantrag. Für die ordnungsgemäße Begründung einer Aufklärungsrüge ist unter anderem substanziiert darzulegen, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterlassen nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist. Dazu ist in der Regel ein - unbedingter - Beweisantrag erforderlich, der förmlich spätestens in der mündlichen Verhandlung zu stellen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Mai 2018 - 9 B 37.17 - juris Rn. 2 m. w. N.). Einen solchen Beweisantrag im Sinne des § 86 Abs. 2 VwGO, der im Termin ausdrücklich auszusprechen und in das Sitzungsprotokoll aufzunehmen ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. Dezember 2011 - 9 B 53.11 - NVwZ 2012, 512 <513>), hat der Beigeladene nicht gestellt. Den im Schriftsatz vom 14. Juni 2021 angekündigten Antrag auf Einnahme eines Augenscheins hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 22. Juni 2021 nicht wiederholt.

 

Es ist auch nicht ersichtlich, dass sich der Vorinstanz - auf der Basis ihres materiell-rechtlichen Standpunkts - die Durchführung eines (weiteren) Ortstermins hätte aufdrängen müssen. Karten und Lichtbilder sind im Rahmen des § 86 Abs. 1 VwGO unbedenklich verwertbar, wenn sie die räumlichen Gegebenheiten in ihren für die gerichtliche Beurteilung maßgeblichen Merkmalen so eindeutig ausweisen, dass sich der mit einer Ortsbesichtigung erreichbare Zweck mit ihrer Hilfe ebenso zuverlässig erfüllen lässt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juni 2007 - 4 B 15.07 - BauR 2007, 2039 f. m. w. N.). Hier geht der Beigeladene selbst davon aus, dass die in den Akten vorhandenen, auf dem protokollierten erstinstanzlichen Ortstermin beruhenden Feststellungen sowie die im Berufungsverfahren (auch von ihm selbst) vorgelegten Fotografien eine hinreichende Beurteilung der Erschließungssituation des Grundstücks ermöglichten. Ob ein Gericht aus den tatsächlichen Gegebenheiten zutreffende rechtliche Schlussfolgerungen gezogen hat, ist keine Frage des § 86 Abs. 1 VwGO.

 

b) Der Umstand, dass der Verwaltungsgerichtshof auf der Grundlage des Akteninhalts zu einer anderen Bewertung des Erschließungsanspruchs als das Verwaltungsgericht und der Beigeladene gelangt ist, vermag auch keine Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zu begründen. Nach dieser Vorschrift ist es Sache des Tatsachengerichts, sich im Wege der freien Beweiswürdigung eine Überzeugung von dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu bilden. Die Einhaltung der verfahrensrechtlichen Grenzen zulässiger Sachverhalts- und Beweiswürdigung ist deshalb nicht schon dann in Frage gestellt, wenn ein Beteiligter - wie hier - das vorliegende Tatsachenmaterial anders würdigt oder aus ihm andere Schlüsse ziehen will als das Gericht (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 12. Februar 2020 - 9 B 30.19 - juris Rn. 3 und vom 24. November 2021 - 9 B 5.21 - NJW 2022, 1186 Rn. 19). Im Übrigen hat der Verwaltungsgerichtshof - entgegen der Darstellung in der Beschwerde - nicht übersehen, dass das betreffende Flurstück zum Zeitpunkt der Baugenehmigung hinreichend erschlossen war (vgl. Rn. 32). Er geht aber aufgrund der zweiten Änderung des Bebauungsplans vom 5. November 1992 von einem weitergehenden Erschließungsanspruch aus ("ungehinderte Zufahrt ... ohne Erschwernis", vgl. Rn. 35).

 

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG; sie entspricht der Wertfestsetzung der Vorinstanzen.