Arzt- und Krankenhaushaftung


Darlegungslast des Patienten im Arzthaftungsprozess bei vorliegenden negativen Schlichtungsgutachten

BGH, Beschluss vom 12.03.2019 - VI ZR 278/18 -

Kurze Inhaltsangabe mit Erläuterungen:

 

Die Erblasserin war bei der Beklagten wegen Beschwerden an der Lendenwirbelsäule  in stationärer Behandlung, in deren Verlauf sie auch am 27.01.2012 operiert wurde. Postoperativ klagte sie über Übelkeit und Bauchschmerzen. Sie verstarb am 02.02.2012. Im Autopsiebericht wird als Todesursache eine akute Koronarinsuffizienz u.a. nach vorausgegangenem Darmverschluss angegeben. Die Klägerin, die materielle und immaterielle Ansprüche aus eigenem und ererbten Recht geltend machte, führt den Tod der Erblasserin auf einen unerkannt und unbehandelt gebliebenen Darmverschluss zurück.

 

Vorgerichtlich wurde ein Schlichtungsverfahren vor der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der zuständigen Ärztekammer durchgeführt. In diesem Rahmen wurde ein neurochirugisches Gutachten erstellt, demzufolge ein Behandlungsfehler nicht festzustellen sei. Die nachfolgende Klage wurde von Land- und Oberlandesgericht zurückgewiesen. Die gegen die Entscheidung des OLG eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH führte zur Aufhebung des Urteils des OLG und Zurückverweisung.

 

Der BGH folgte nicht der Auffassung des OLG, ein möglicher Behandlungsfehler sei von der Klägerin nicht hinreichend substantiiert dargelegt worden. Dabei stützte sich das OLG auf das im Schlichtungsverfahren eingeholte Gutachten; da dagegen seitens der Klägerin keine substantiierten Einwendungen erhoben worden seien, sei es nicht erforderlich gewesen, ihrem Antrag auf Einholung eines (weiteren) Sachverständigengutachtens (auch unter Berücksichtigung der im Arzthaftpflichtprozess geltenden geringeren Anforderungen an die Darlegungslast des Patienten)  nachzugehen.

 

Der BGH sah in seiner Entscheidung die Substantiierungsanforderung des OLG als überspannt an. Vom Patienten (und damit auch des Erben) könne keine genaue Kenntnis medizinischer Vorgänge erwartet oder gefordert werden; ihm fehle die genaue Einsicht in das Behandlungsgeschehen sowie das Fachwissen zur Erfassung und Darlegung des Konfliktstoffs. Vom BGH wurde darauf verwiesen, dass sich der Patient zur Prozessführung nicht medizinisches Fachwissen aneignen müsse. Das aber bedeutet auch, dass er nicht verpflichtet ist, sich einen Rechtsanwalt zu suchen, der über dieses Wissen verfügt oder zur Prozessbegleitung einen Mediziner zu beauftragen. Deshalb, so der BGH, könne sich der Patient auf Vortrag beschränken, der alleine die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens des Behandlers aufgrund der Folgen für den Patienten gestatte (so bereits u.a. Urteile des BGH vom 19.02.2019 - VI ZR 505/17 - und vom 24.02.2015 - VI ZR 106/13 -). Diese eigeschränkte primäre Darlegungslast des Patienten ginge zur Gewährleistung einer Waffengleichheit der Parteien regelmäßig mit einer gesteigerten Verpflichtung des Gerichts zur Sachverhaltsaufklärung (§ 139 ZPO) bis hin zur Einholung eines Sachverständigengutachtens (§ 144 Abs. 1 S. 1 ZPO) von Amts wegen einher, soweit der Patient auf eine entsprechende Aufbereitung des Sachverhalts angewiesen sei (BGH, Urteil vom 19.02.2019 aaO.; BGH, Urteil vom 08.01.1991 - VI ZR 102/90 -).  

 

Vorliegend lag allerdings ein medizinisches Gutachten aus dem vorangegangenen Schlichtungsverfahren vor. Dieses könne, so der BGH, mittels des Urkundenbeweises auch vom Gericht gewürdigt werden (BGH, Beschluss vom 13.12.2016 - VI ZB 1/16 -). Das aber dürfe nicht zu einer Erhöhung der Darlegungslast des Patienten führen, da dieser für den Prozess ansonsten doch gezwungen wäre, sich medizinisches Fachwissen für einen schlüssigen Klagevortrag anzueignen. Auch sei ein Schlichtungsgutachten auf Beweisebene nicht geeignet, den prozessualen Sachverständigenbeweis zu ersetzen; eine Verwertung gem. § 411a ZPO sei mangels gerichtlicher oder staatsanwaltschaftlicher Veranlassung nicht möglich. Als Urkunde würde aber das Gutachten nur bezeugen, dass der Schlichtungsgutachter dieses erstattet hat, nicht aber die Richtigkeit des Inhalts. Ob die im Schlichtungsgutachten enthaltene Einschätzung inhaltlich richtig ist, unterliege der freien richterlichen Würdigung. Hier müsse der Tatrichter einen (vom Gericht beauftragten) Sachverständigen hinzuziehen, unabhängig davon, ob die Behauptung der Partei in dem urkundsbeweislich herangezogen Gutachten eine Stütze findet oder nicht. Der Urkundsbeweis dürfe nie dazu führen, dass den Parteien zustehende Recht, einen Sachverständigenbeweis zu führen, zu verkürzen (BGH, Urteil vom 06.06.2000 - VI ZR 98/99 -).

 

 

Diese Grundsätze seien vom OLG nicht beachtet worden, indem das OLG die Auffassung vertrat, der mit dem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachten versehene Vortrag der Klägerin zu einem angeblichen Behandlungsfehler der Beklagten sei nicht hinreichend substantiiert, was die die Klägerin in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG) verletzt habe. Indem die Klägerin unter Bezugnahme auf die Autopsiebericht behauptete, die Erblasserin habe einen von der Beklagte schuldhaft verkannten postoperativen Darmverschluss, an dem sie verstorben sei, gehabt, hätte sie alle Voraussetzungen für den Schadensersatzanspruch vorgetragen. Nach den benannten Grundsätzen hätte es eines weitergehenden Vortrages nicht bedurft. Dass der Klägerin ungünstige Gutachten aus dem Schlichtungsverfahren habe die Substantiierungsanforderungen nicht erhöht, sondern lediglich dazu geführt, dass sich ein gerichtlich zu bestellender Sachverständiger und das Gericht selbst auf Beweisebene mit dem Schlichtungsgutachten auseinandersetzen müsse, § 286 ZPO.

 

Aus den Gründen:

 

 Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Thüringer Oberlandesgerichts vom 30. Mai 2018 aufgehoben.

 

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: 30.000 €

 

Gründe

 

I.

 

Die Klägerin nimmt die Beklagten nach dem Tod ihrer Mutter aus eigenem und ererbtem Recht auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens nach ärztlicher Behandlung in Anspruch.

 

Die im Jahr 1938 geborene Mutter der Klägerin begab sich am 25. Januar 2012 wegen Beschwerden an der Lendenwirbelsäule in die stationäre Behandlung bei der Beklagten zu 1. Am 27. Januar 2012 erfolgte die geplante Operation mit knöcherner Dekompression und Spondylodese. Postoperativ klagte die Patientin über Übelkeit und Bauchschmerzen. Am 2. Februar 2012 verstarb die Patientin. Der Autopsiebericht gibt als Todesursache eine akute Koronarinsuffizienz an, der eine stenosierende Koronararteriensklerose und ein postoperativer Ileus (Darmverschluss) vorausgegangen seien. Die Klägerin führt den Tod ihrer Mutter auf den nach ihrer Auffassung behandlungsfehlerhaft unerkannt und unbehandelt gebliebenen Darmverschluss zurück.

 

Vorgerichtlich wurde ein Schlichtungsverfahren vor der Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der zuständigen Ärztekammer durchgeführt, in dessen Rahmen ein neurochirurgisches Gutachten erstellt wurde. Danach seien Fehler in der Behandlung der Patientin nicht festzustellen.

 

Das Landgericht hat die Klage ab-, das Oberlandesgericht die von der Klägerin dagegen geführte Berufung zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde.

 

II.

 

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.

 

1. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen damit begründet, dass ein etwaiger Behandlungsfehler nicht hinreichend substantiiert dargetan sei. Der Sachverständige des Schlichtungsverfahrens sei unter Berücksichtigung der Frequenz des Stuhlgangs der Patientin sowie der postoperativen Darmatonie (Darmlähmung) zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Behandlungsfehler nicht vorliege. Der Autopsiebericht habe ihm dabei vorgelegen. Da die Klägerin gegen diese gutachterliche Einschätzung keine substantiierten Einwendungen erhoben habe, sei die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens auch unter Berücksichtigung der im Arzthaftpflichtprozess geltenden geringen Anforderungen an die Darlegungslast des Patienten nicht erforderlich.

 

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht mit diesen Ausführungen die an eine hinreichende Substantiierung des Klagevortrags zu stellenden Anforderungen überspannt und die Klägerin dadurch in entscheidungserheblicher Weise in ihrem aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt hat.

 

a) Nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats sind an die Substantiierungspflichten des Patienten im Arzthaftungsprozess nur maßvolle Anforderungen zu stellen. Vom Patienten kann keine genaue Kenntnis der medizinischen Vorgänge erwartet und gefordert werden. Ihm fehlt die genaue Einsicht in das Behandlungsgeschehen und das nötige Fachwissen zur Erfassung und Darstellung des Konfliktstoffs; er ist nicht verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Prozessführung medizinisches Fachwissen anzueignen. Die Patientenseite darf sich deshalb auf Vortrag beschränken, der die Vermutung eines fehlerhaften Verhaltens der Behandlungsseite aufgrund der Folgen für den Patienten gestattet (Senatsurteil vom 19. Februar 2019 - VI ZR 505/17, juris Rn. 15; vgl. weiter Senatsurteile vom 14. März 2017 - VI ZR 605/15, VersR 2017, 822 Rn. 19; vom 24. Februar 2015 - VI ZR 106/13, NJW 2015, 1601 Rn. 19; vom 8. Juni 2004 - VI ZR 199/03, BGHZ 159, 245, 252, 254).

 

Mit der eingeschränkten primären Darlegungslast des Patienten geht zur Gewährleistung prozessualer Waffengleichheit zwischen den Parteien regelmäßig eine gesteigerte Verpflichtung des Gerichts zur Sachverhaltsaufklärung (§ 139 ZPO) bis hin zur Einholung eines Sachverständigengutachtens (§ 144 Abs. 1 Satz 1 ZPO) von Amts wegen einher, soweit der Patient darauf angewiesen ist, dass der Sachverhalt durch ein solches aufbereitet wird (Senatsurteil vom 19. Februar 2019 - VI ZR 505/17, juris Rn. 16; vgl. weiter Senatsurteil vom 8. Januar 1991 - VI ZR 102/90, NJW 1991, 1541, juris Rn. 9; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl., Rn. E 6; Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, 6. Aufl., Rn. 270).

 

Nichts anderes gilt, wenn dem Gericht ein medizinisches Gutachten aus vorangegangenen Verfahren ärztlicher Schlichtungsstellen vorliegt. Zwar kann ein solches Gutachten nach allgemeinen Regeln im Wege des Urkundenbeweises gewürdigt werden (vgl. zuletzt etwa Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2016 - VI ZB 1/16, BGHZ 213, 131 Rn. 13 mwN). Doch führt dies weder zu einer Erhöhung der Darlegungslast des Patienten, der ansonsten im Falle eines ihm ungünstigen Schlichtungsgutachtens doch gezwungen wäre, sich medizinisches Fachwissen anzueignen, um einen schlüssigen Klagevortrag zu halten. Noch ist das Schlichtungsgutachten auf Beweisebene geeignet, den Sachverständigenbeweis zu ersetzen (teilweise Abgrenzung zu Senat, Urteile vom 19. Mai 1987 - VI ZR 147/86, NJW 1987, 2300, juris Rn. 9; vom 2. März 1993 - VI ZR 104/92, NJW 1993, 2378, juris Rn. 14, 16; Beschluss vom 6. Mai 2008 - VI ZR 250/07, VersR 2008, 1216, juris Rn. 6). Das Schlichtungsgutachten kann mangels gerichtlicher oder staatsanwaltlicher Veranlassung nicht gemäß § 411a ZPO als Sachverständigengutachten verwertet werden. Als Urkunde bezeugt es gemäß § 416 ZPO nur, dass der Schlichtungsgutachter ein solches Gutachten erstattet hat (Zöller/Greger, ZPO, 32. Aufl., vor § 402 Rn. 11). Auf den Inhalt der gutachterlichen Erklärung erstreckt sich die Beweisregel hingegen nicht. Ob die in dem urkundlich zu verwertenden Schlichtungsgutachten enthaltene Einschätzung inhaltlich richtig ist, unterliegt danach der freien richterlichen Beweiswürdigung (vgl. BGH, Urteile vom 11. Mai 1989 - III ZR 2/88, NJW-RR 1989, 1323, juris Rn. 19; vom 24. Juni 1993 - XI ZR 96/92, NJW-RR 1993, 1379, juris Rn. 26; Beschluss vom 16. Februar 2012 - V ZB 48/11, NJW-RR 2012, 649 Rn. 9; Preuß in Prütting/Gehrlein, ZPO; 10. Aufl., § 416 Rn. 19). Der Tatrichter muss daher in einem solchen Fall einen Sachverständigen hinzuziehen und eine schriftliche oder mündliche Begutachtung anordnen (vgl. Senatsurteil vom 22. April 1997 - VI ZR 198/96, NJW 1997, 3381, juris Rn. 11 f.). Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Behauptung der Partei in der urkundenbeweislich herangezogenen Begutachtung eine Stütze findet oder nicht. Der Urkundenbeweis darf nämlich nicht dazu führen, dass den Parteien das ihnen zustehende Recht, den Sachverständigenbeweis anzutreten, verkürzt wird (vgl. Senat, Urteile vom 6. Juni 2000 - VI ZR 98/99, NJW 2000, 3072, juris Rn. 8; vom 14. Oktober 1997 - VI ZR 404/96, NJW 1998, 311, juris Rn. 12).

 

b) Nach diesen Grundsätzen verletzt die Würdigung des Berufungsgerichts, der mit dem Angebot eines Sachverständigengutachtens unter Beweis gestellte Vortrag der Klägerin zum angeblichen Behandlungsfehler der Beklagten sei nicht hinreichend substantiiert, die Klägerin in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

 

Indem die Klägerin unter Bezugnahme auf den Autopsiebericht behauptet hat, ihre Mutter habe an einem von den Beklagten schuldhaft verkannten post-operativen Darmverschluss gelitten und sei hieran verstorben, hat sie alle Voraussetzungen eines - ererbten bzw. in eigener Person entstandenen - Schadensersatzanspruchs vorgetragen. Weiterer Darlegung bedurfte es nach den dargestellten Grundsätzen mithin insoweit nicht. Durch das der Klägerin ungünstige Schlichtungsgutachten erhöhten sich die Substantiierungsanforderungen für die Klägerin nicht; es führt alleine dazu, dass sich der nunmehr vom Berufungsgericht zu beauftragende gerichtliche Sachverständige und das Berufungsgericht selbst auf Beweisebene mit der Einschätzung des Schlichtungsgutachters auseinander zu setzen haben werden (§ 286 ZPO).

 

c) Der dargestellte Gehörsverstoß ist entscheidungserheblich. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das Berufungsgericht im Rahmen der durchzuführenden Beweisaufnahme, insbesondere nach Einholung eines Sachverständigengutachtens, die Überzeugung gebildet hätte, dass die Beklagten den ausweislich des Autopsieberichts jedenfalls mit todesursächlich gewordenen Darmverschluss der Patientin behandlungsfehlerhaft nicht erkannt und behandelt haben, und auf dieser Grundlage den Klageanspruch bejaht hätte.