Grundrechte


Das Recht zur Selbsttötung und der (verbotene) Erwerb von Arzneimitteln zur Selbsttötung

BVerfG (2. Kammer des 1. Senats), Beschluss vom 10.12.2020 - 1 BvR 1837/19 -

Kurze Inhaltsangabe:

 

Die Beschwerdeführer (in den Jahren 1937 und 1944 geborene Eheleute) begehrten vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Erlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG zum Erwerb einer tödlichen Dosis Natriumpentobarbital zum Zwecke der Selbsttötung. Dies wurde abgelehnt; die Klage gegen den ablehnenden Bescheid wurde in allen Instanzen abgelehnt, vom Bundesverwaltungsgericht mit Hinweis  darauf, dass keine extreme Notlage in Gestalt einer medizinischen Indikation bestünde. Im Rahmen ihrer Verfassungsbeschwerde machten die Beschwerdeführer u.a. geltend, sie könnten nicht nach § 13 BtMG darauf verwiesen werden, sich das Medikament ärztlich verschreiben zu lassen, da z.B. das ärztliche Standesrecht in Hessen eine solche Verschreibung nicht gestatte und Suizidbeihilfen auch nach Wegfall der Strafdrohung des § 217 StGB faktisch nicht bestünden. Es bliebe damit nur die versagte Möglichkeit nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG. 

 

Das BverfG hat die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Zwar anerkennt es ausdrücklich das Recht, seinem Leben ein selbstbestimmtes Ende zu setzen. Anders als die Beschwerdeführer vertrat das BVerfG  allerdings die Auffassung, mit der Entscheidung des 2. Senats des BVerfG vom 26.02.2020 - 2 BvR 2347/15 – sei dem Anspruch entsprochen worden. Die Beschwerdeführer seien in Ansehung der durch das benannte Urteil veränderten Situation verpflichtet aktiv nach suizidhilfebereiten Personen im Inland, durch Bemühungen um eine ärztliche Verschreibung des gewünschten Wirkstoffs oder auf anderem geeigneten Weg zu verfolgen.

 

Das BVerfG verwies die Beschwerdeführer auf den Rechtsweg. Es gelte der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, weshalb hier in Ansehung der Entscheidung des BVerwG in dem Rechtsstreit der Beschwerdeführer auf der Grundlage der Entscheidung des BVerfG vom 26.02.2020 nach § 80 Abs. 7 VwGO und entsprechende Bemühungen gegenüber den zuständigen Behörden möglich seien. Es läge nach der Nichtigerklärung des § 217 StGB nicht mehr auf der Hand, dass eine aktive (auch auf andere Bundesländer als Hessen ausdehnende) Suche nach Suizidbeihelfern und verschreibungswilligen- und -berechtigten Personen aussichtslos wäre. Dies schon vor dem Hintergrund des Umstandes, dass die Aufhebung der Strafnorm auch von Ärzten betrieben worden sei. Es sei deshalb nicht ersichtlich, dass die Beschwerdeführer ihre Möglichkeiten ausgeschöpft hätten.

 

 

Im Weiteren machte das BVerfG geltend, dass durch die benannte Entscheidung vom 26.02.2020 die Situation verbessert worden sei und nunmehr nur durch neuerliche Anstrengungen zur Realisierung des Suizidwunsches ermessen ließe, welche konkreten Gestaltungsmöglichkeiten und tatsächlichen Räume die neue Rechtslage eröffne. Nur so ließe sich klären, ob diese ausreichend praktische und zumutbare Möglichkeiten biete, einen Suizidwunsch zu realisieren, und zwar bei angepassten Konzepten eines medizinischen und pharmakologischen Missbrauchsschutz. Der Subsidiaritätsgrundsatz des § 90 Abs. 2 BVerfGG soll davor schützen, dass das BVerfG auf unsicherer Grundlage zu den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten entscheide. Der Zweite Senat habe bei seiner Entscheidung auch den politischen gestaltungsspielraum eines übergreifenden legislativen Schutzkonzepts anerkannt, der bei einer Entscheidung in der Sache faktisch vorweggenommen würde.

 

Aus den Gründen:

 

Tenor

 

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Gründe

 

I.

 

Die Beschwerdeführer, in den Jahren 1937 und 1944 geborene Eheleute, wenden sich gegen die im gerichtlichen Verfahren bestätigte Weigerung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), ihnen eine Erlaubnis gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG zum Erwerb jeweils einer tödlichen Dosis Natriumpentobarbital zum Zweck der Selbsttötung zu erteilen. Sie tragen vor, dass die Ermöglichung ihres Wunsches nach einer selbstbestimmten Beendigung des eigenen Lebens durch Erteilung einer betäubungsmittelrechtlichen Erlaubnis nicht - wie vom Bundesverwaltungsgericht angenommen - davon abhängig gemacht werden dürfe, dass eine "extreme Notlage" in Gestalt einer medizinischen Indikation bestehe.

 

In Anbetracht des Urteils des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u.a. -, mit dem das strafrechtliche Verbot der gewerblichen Suizidbeihilfe (§ 217 StGB) wegen unzumutbarer Erschwerung der Möglichkeit, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, für nichtig erklärt wurde, tragen die Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom August 2020 weiter vor. Sie meinen, dass sich ihr mit der Verfassungsbeschwerde verfolgtes Anliegen durch das Urteil des Zweiten Senats nicht erledigt habe. Insbesondere seien die Beschwerdeführer nicht darauf zu verweisen, sich das begehrte Medikament nach § 13 BtMG ärztlich verschreiben zu lassen. Das ärztliche Standesrecht des Landes Hessen gestatte eine solche Verschreibung nicht. Angebote von Suizidbeihilfe bestünden auch nach Wegfall der Strafdrohung des § 217 StGB faktisch nicht. Andere Möglichkeiten als eine Erlaubnis nach § 5 Abs. 1 Nr. 6 BtMG, um das verfassungsgerichtlich anerkannte Recht auf selbstbestimmtes Sterben zu realisieren, seien daher nicht vorhanden.

 

II.

 

Die Annahme der Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung ist weder aufgrund ihrer grundsätzlichen Bedeutung noch zur Durchsetzung der Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte der Beschwerdeführer geboten (§ 93a Abs. 2 BVerfGG), weil sie infolge des Urteils des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u.a. - unzulässig geworden ist.

 

1. Die Verfassungsbeschwerde genügt angesichts des Urteils des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 nicht mehr den aus der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) sich ergebenden Anforderungen. Vielmehr sind die Beschwerdeführer in Anbetracht der durch dieses Urteil grundlegend veränderten Situation gehalten, ihr verfassungsgerichtlich anerkanntes Recht, ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, durch aktive Suche nach suizidhilfebereiten Personen im Inland, durch Bemühungen um eine ärztliche Verschreibung des gewünschten Wirkstoffs oder auf anderem geeignetem Weg konkret zu verfolgen.

 

a) Nach dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde sind Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde und auch noch während des Verfahrens gehalten, sämtliche nach Lage der Sache zumutbaren Möglichkeiten und Rechtsbehelfe auszuschöpfen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren abzuwenden oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 68, 384 <388 f.>; 77, 381 <401>; 81, 97 <102 f.>; 107, 395 <414>; 112, 50 <60>; stRspr). Bei Verfassungsbeschwerden, die sich unmittelbar gegen Gesetze richten und bei denen ein Rechtsweg daher fehlt, fordert das Bundesverfassungsgericht dementsprechend im Grundsatz ein Ausschöpfen aller annähernd gleichwertigen fachgerichtlichen Rechtschutzmöglichkeiten, solange davon verbesserte Entscheidungsgrundlagen zu erhoffen sind (vgl. BVerfGE 150, 309 <326 f.>). Diese Obliegenheit besteht allerdings nur im Rahmen des Zumutbaren (vgl. BVerfGE 77, 275 <282>; 85, 80 <86>). Zu den danach zumutbar in Anspruch zu nehmenden Rechtsbehelfen gehören bei einer zwischenzeitlichen erheblichen Änderung der Entscheidungsgrundlage unter Umständen auch ein Abänderungsantrag nach § 80 Abs. 7 VwGO, entsprechende Bemühungen gegenüber den zuständigen Behörden (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. Dezember 2006 - 1 BvR 271/05 -, Rn. 11; Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 30. August 2020 - 1 BvQ 94/20 -, Rn. 7) oder andere geeignete Anstrengungen jenseits formalisierter Verfahren.

 

b) Ausgehend hiervon ist den Beschwerdeführern in der vorliegenden Sondersituation zuzumuten, mit Blick auf die Entscheidung des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 ihre Bemühungen darum, die tatsächlichen Voraussetzungen für die Realisierung ihres Wunsches nach einem selbstbestimmten Tod zu schaffen, wiederaufzunehmen, um eine Vereitelung ihres Wunsches auf diesem Wege selbst abzuwenden.

 

aa) Die Möglichkeit der Beschwerdeführer, ihren Wunsch nach einem selbstbestimmten Lebensende zu verwirklichen, ist infolge der Entscheidung des Zweiten Senats wesentlich verbessert. Infolge der Nichtigerklärung des § 217 StGB liegt nicht mehr auf der Hand, dass eine aktive, auch andere Bundesländer als das Land Hessen in den Blick nehmende Suche der Beschwerdeführer nach medizinisch kundigen Suizidbeihelfern und verschreibungswilligen und -berechtigten Personen aussichtslos wäre. Unter strafrechtlichem Blickwinkel dürfte eine solche Leistung vielmehr angeboten werden. Nicht zuletzt an dem Umstand, dass das Verfahren, das zur Aufhebung dieser Strafnorm führte, auch von mehreren Ärzten betrieben wurde, zeigt sich, dass ein Kreis medizinisch kundiger Personen existiert, der zu entsprechenden Verschreibungen und anderen Unterstützungshandlungen bereit und dazu - in strafrechtlicher und betäubungsmittelrechtlicher Hinsicht - nunmehr auch befugt wäre. Damit ist vorliegend nicht erkennbar, dass die Beschwerdeführer alle ihnen zumutbar zu Gebot stehenden Möglichkeiten, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Lebensende zu verwirklichen, ausgeschöpft haben.

 

bb) Zugleich sind von einer Vorabklärung der durch das Urteil des Zweiten Senats grundlegend modifizierten tatsächlichen und rechtlichen Situation im Rahmen eigener Bemühungen um suizidhilfebereite Personen und der damit verbundenen Abklärung des nunmehr geltenden fachrechtlichen Rahmens erheblich verbesserte verfassungsgerichtliche Entscheidungsgrundlagen zu erhoffen. Insbesondere lässt sich nur aufgrund neuerlicher Anstrengungen zur Realisierung des Suizidwunsches der Beschwerdeführer ermessen, welche konkreten Gestaltungsmöglichkeiten und tatsächlichen Räume die nunmehr geltende Rechtslage bietet. Nur auf Grundlage einer solchen Klärung der Sach- und Rechtslage ist absehbar, ob infolge der Nichtigerklärung des § 217 StGB nunmehr ausreichende praktische und zumutbare Möglichkeiten bestehen, einen Suizidwunsch zu realisieren. Im Rahmen solcher neuerlicher Anstrengungen und dadurch angestoßener rechtlicher Verfahren könnten auch auf die neue Situation angepasste Konzepte des medizinischen und pharmakologischen Missbrauchsschutzes (vgl. zu dessen fortgesetzter Berechtigung BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u.a. -, Rn. 338, 342) erarbeitet und zur Anwendung gebracht werden. Eine verfassungsgerichtliche Sachentscheidung zum jetzigen Zeitpunkt müsste demgegenüber auf weitgehend unsicherer Grundlage hinsichtlich der gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten ergehen. Eben davor soll der Subsidiaritätsgrundsatz des § 90 Abs. 2 BVerfGG schützen.

 

cc) Schließlich würde eine verfassungsgerichtliche Sachentscheidung zum jetzigen Zeitpunkt - ohne vorangehende Klärung der rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten in Ansehung der geänderten Umstände - den vom Zweiten Senat anerkannten politischen Gestaltungsspielraum bei der Erarbeitung eines übergreifenden legislativen Schutzkonzepts (vgl. dazu BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 26. Februar 2020 - 2 BvR 2347/15 u.a. -, Rn. 338 ff.) weitgehend einschränken und die Gestaltungsentscheidung faktisch vorwegnehmen.

 

2. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

 

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.