Arbeitsrecht


Zur Anrechenbarkeit von Prämien auf den Mindestlohn

BAG, Urteil vom 08.11.2017 - 5 AZR 692/16 -

 

Kurze Inhaltsangabe:

 

Der Kläger, der bei der Beklagten als Kraftfahrer beschäftigt war,  erhielt ein bestimmtes Grundgehalt sowie verschiedene Prämien: Eine „Immerda-Prämie“ für durchgehende Arbeitsfähigkeit, eine Prämie für Ordnung und Sauberkeit im Hinblick auf die Sauberkeit des benutzten Fahrzeuges und eine Leergutprämie bei korrekten Umgang mit vom Kunden zurückgegebenen Leergut. Im Rahmen der Revision beider Parteien gegen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Zunächst wandte sich der Kläger war nur noch die Frage im Streit, ob der Kläger in den Monaten Januar und März bis September 2915 den gesetzlichen Mindestlohn erhielt.

 

Nach § 1 MiLoG hat der Arbeitnehmer für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde einen Anspruch auf den Mindestlohn, der hier im streitigen Zeitraum € 8,50/Stunde betrug. Das BAG verweist darauf, dass dieser Mindestlohn neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch treten würde und bei Unterschreiten des Mindestlohns § 3 MiLoG zu einem Differenzanspruch führen würde. Das Landesarbeitsgericht habe im Tatbestand des Berufungsurteils bindend den jeweiligen Mindestlohn in den einzelnen Monaten nach Maßgabe des Gesetzes festgestellt (§ 559 ZPO). Dieser Mindestlohn sei aber in den streitbefangenen Monaten durch Zahlung der Beklagten erfüllt,  362 Abs. 1 BGB.

  

Die Erfüllung trete ein, wenn die vom Arbeitgeber im Monat gezahlte Bruttovergütung den betrag erreiche, der sich aus der Multiplikation der geleisteten Arbeitsstunden mit dem Mindestlohnsatz (hier: € 8,50) ergäbe. Dies sei der Fall, rechnet man die von der beklagten an den Kläger gezahlten Prämien mit ein. Die Einrechnung sei rechtmäßig, da die gewährten Prämien mindestlohnwirksam seien. § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG setze den Mindestlohn  „je Zeitstunde“ fest. Der Anspruch würde nicht von der zeitlichen Lage der Arbeit oder mit den Arbeiten verbundenen Umständen oder erfolgen abhängig gemacht. Damit aber seien alle Entgeltzahlungen, die vom Arbeitgeber im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbracht würden, mindestlohnwirksam, soweit diese Zahlungen nicht ohne Rücksicht auf eine Arbeitsleistung oder auf Grund einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung erbracht würden. Die gezahlten Prämien würden aber als Grundlage die Arbeitsleistung haben, weshalb sie bei der Bemessung mit einzubeziehen seien.

 

 

Aus den Gründen:

 

Tenor

 

1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 23. August 2016 - 2 Sa 109/16 - wird zurückgewiesen.

2. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Sachsen-Anhalt vom 23. August 2016 - 2 Sa 109/16 - aufgehoben, soweit es die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Halle vom 24. Februar 2016 - 3 Ca 1815/15 NMB - zurückgewiesen hat.

3. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Halle vom 24. Februar 2016 - 3 Ca 1815/15 NMB - in seiner Ziffer 2 weiter abgeändert und die Klage insoweit insgesamt abgewiesen.

4. Von den erstinstanzlichen Kosten haben der Kläger 90 % und die Beklagte 10 % zu tragen. Die Kosten der Berufung und der Revision hat der Kläger zu tragen.

 

Tatbestand

 

Die Parteien streiten - soweit für die Revision von Belang - über die Erfüllung des gesetzlichen Mindestlohnanspruchs.

Der Kläger ist seit dem 15. Februar 2010 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin als Kraftfahrer beschäftigt. Er arbeitete in den Monaten Januar sowie März bis September 2015 an fünf Tagen pro Woche jeweils 9,6 Stunden. Dabei fielen im Mai und August 21 Arbeitstage, im Juli 23 Arbeitstage und in den übrigen Monaten 22 Arbeitstage an. Die Beklagte zahlte dem Kläger - jeweils brutto - ein monatliches Grundgehalt von 1.605,00 Euro, eine „Immerda-Prämie“ von 95,00 Euro, eine Prämie für Ordnung und Sauberkeit von 50,00 Euro und eine „Leergutprämie“ von 155,00 Euro.

 

Die „Immerda-Prämie“ erhalten Beschäftigte, die im Abrechnungsmonat durchgehend arbeitsfähig waren und nicht unentschuldigt gefehlt haben. Die Prämie für Ordnung und Sauberkeit zahlt die Beklagte, wenn das zum Transport von Frischfleisch benutzte Fahrzeug sauber gehalten wird, die „Leergutprämie“ für den korrekten Umgang mit vom Kunden zurückzugebendem Leergut.

 

Mit der am 18. August 2015 beim Arbeitsgericht eingereichten Klage hat der Kläger sich zunächst gegen eine zum 1. September 2011 erfolgte Kürzung der „Immerda-Prämie“ von 180,00 Euro brutto auf 95,00 Euro brutto gewandt. Mit Klageerweiterung vom 26. Oktober 2015 hat er unter Berufung auf das Mindestlohngesetz Differenzvergütung für den Zeitraum Januar und März bis September 2015 verlangt und gemeint, die Beklagte habe den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn nicht erfüllt. Die von ihr im Streitzeitraum gezahlten Prämien seien nicht mindestlohnwirksam.

 

Der Kläger hat - soweit die Klage in die Revisionsinstanz gelangt ist - beantragt,

 

        

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1.440,00 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

 

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und gemeint, die von ihr gezahlten Prämien seien im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachtes Arbeitsentgelt, die den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn miterfüllten.

 

Das Arbeitsgericht hat in dem in der Revision noch anhängigen Umfang der Klage stattgegeben (Ziffer 2 Ersturteil) und die Beklagte außerdem zur Zahlung von 510,00 Euro brutto nebst Zinsen (Ziffer 1 Ersturteil) als weitere „Immerda-Prämie“ für die Monate Februar bis Juli 2015 verurteilt. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen - dem Kläger nur für den Monat Juli 2015 eine auf § 1 MiLoG gestützte Differenzvergütung iHv. 66,80 Euro brutto nebst Zinsen zugesprochen. Mit der vom Landesarbeitsgericht für beide Parteien zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen darüber hinausgehenden Klageantrag weiter, während die Beklagte die vollständige Klageabweisung begehrt.

 

Entscheidungsgründe

 

Die Revision der Beklagten ist begründet, die Revision des Klägers unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht der Berufung der Beklagten nicht in vollem Umfang entsprochen. Die Klage ist, soweit sie in die Revisionsinstanz gelangt ist, unbegründet.

 

I. Streitgegenständlich ist in der Revisionsinstanz nach den von den Parteien gestellten Anträgen (§ 557 Abs. 1 ZPO) nur der Anspruch des Klägers auf den gesetzlichen Mindestlohn für die Monate Januar und März bis September 2015.

 

Dagegen ist die Entscheidung des Arbeitsgerichts zum Streitgegenstand „Immerda-Prämie“ rechtskräftig geworden (§ 705 ZPO). Denn diesbezüglich hat die Beklagte nach Berufungsantrag und -begründung das Ersturteil nicht angegriffen. Soweit das Landesarbeitsgericht unter Missachtung des § 528 ZPO eine mangels Begründung unzulässige „Berufung“ der Beklagten angenommen hat, geht das Berufungsurteil ins Leere.

 

II. Die Klage ist unbegründet.

 

1. Der Kläger hat nach § 1 Abs. 1 und Abs. 2 MiLoG für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde Anspruch auf den Mindestlohn von - im Streitzeitraum - 8,50 Euro brutto. Dieser gesetzliche Anspruch tritt eigenständig neben den arbeits- oder tarifvertraglichen Entgeltanspruch; wird der gesetzliche Mindestlohn unterschritten, führt § 3 MiLoG zu einem Differenzanspruch (BAG 25. Mai 2016 - 5 AZR 135/16 - Rn. 22 mwN, BAGE 155, 202, seither st. Rspr.; zuletzt 6. September 2017 - 5 AZR 317/16 - Rn. 10).

 

Den zeitlichen Umfang der vom Kläger in den streitgegenständlichen Monaten tatsächlich geleisteten Arbeit hat das Landesarbeitsgericht im Tatbestand des Berufungsurteils für den Senat bindend festgestellt (§ 559 ZPO). Danach ergibt sich ein gesetzlicher Mindestlohn von 1.713,60 Euro brutto für die Monate Mai und August 2015 (jeweils 201,60 Arbeitsstunden), von 1.795,20 Euro brutto für die Monate Januar, März, April, Juni und September 2015 (jeweils 211,20 Arbeitsstunden) und von 1.876,80 Euro brutto für den Monat Juli 2015 (220,80 Arbeitsstunden).

 

2. Der Anspruch des Klägers auf den gesetzlichen Mindestlohn ist mit der Zahlung von 1.905,00 Euro brutto in jedem der streitgegenständlichen Monate durch Erfüllung erloschen, § 362 Abs. 1 BGB.

 

a) Der Arbeitgeber hat den Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn erfüllt, wenn die für einen Kalendermonat gezahlte Bruttovergütung den Betrag erreicht, der sich aus der Multiplikation der Anzahl der in diesem Monat tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden mit - im Streitzeitraum - 8,50 Euro ergibt (BAG 21. Dezember 2016 - 5 AZR 374/16 - Rn. 17, BAGE 157, 356). Das ist vorliegend der Fall. Denn nicht nur das dem Kläger gezahlte Grundgehalt von 1.605,00 Euro brutto ist zur Erfüllung des Mindestlohnanspruchs geeignet, auch die ihm von der Beklagten gewährten Prämien sind mindestlohnwirksam.

 

b) Weil der Mindestlohn nach § 1 Abs. 2 Satz 1 MiLoG „je Zeitstunde“ festgesetzt ist und das Gesetz den Anspruch nicht von der zeitlichen Lage der Arbeit oder den mit der Arbeitsleistung verbundenen Umständen oder Erfolgen abhängig macht, sind mindestlohnwirksam alle im arbeitsvertraglichen Austauschverhältnis erbrachten Entgeltzahlungen mit Ausnahme der Zahlungen, die der Arbeitgeber ohne Rücksicht auf eine tatsächliche Arbeitsleistung des Arbeitnehmers erbringt oder die auf einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung beruhen (st. Rspr., zuletzt BAG 20. September 2017 - 10 AZR 171/16 - Rn. 13; 11. Oktober 2017 - 5 AZR 621/16 - Rn. 19 mwN; zum Streitstand zwischen „Entgelttheorie“ und „Normalleistungstheorie“ im Schrifttum vgl. nur Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 1 Rn. 106 ff.; MüKoBGB/Müller-Glöge 7. Aufl. § 1 MiLoG Rn. 22 f., jeweils mwN). Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts gebietet die Entstehungsgeschichte des Mindestlohngesetzes kein anderes Verständnis. Der Begriff der „Normalleistung“ hat keinen Eingang in den Wortlaut des Mindestlohngesetzes gefunden (im Einzelnen BAG 21. Dezember 2016 - 5 AZR 374/16 - Rn. 21, BAGE 157, 356; zust. Greiner Anm. AP MiLoG § 1 Nr. 3).

 

c) Danach sind die streitgegenständlichen Prämien mindestlohnwirksam.

 

aa) Mit der Zahlung der „Immerda-Prämie“ honoriert die Beklagte nicht nur die bloße Anwesenheit des Arbeitnehmers im Betrieb, sondern die Erbringung der Arbeitsleistung. Die Prämie soll einen finanziellen Anreiz geben, auch bei (geringfügigen) gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu arbeiten und sich nicht krankschreiben zu lassen (zu einer „Anwesenheitsprämie“ vgl. BAG 11. Oktober 2017 - 5 AZR 621/16 - Rn. 20; im Ergebnis ebenso Riechert/Nimmerjahn MiLoG 2. Aufl. § 1 Rn. 156).

 

bb) Auch die Prämie für Ordnung und Sauberkeit ist Gegenleistung für eine Arbeitsleistung des Klägers. Sie honoriert - wie der Kläger selbst vorgebracht hat - Sauberhalten und Desinfektion des von ihm zum Transport von Frischfleisch benutzten Fahrzeugs. Diese Aufgaben sind Teil der vom Kläger zu verrichtenden Tätigkeiten.

 

cc) Dasselbe gilt für die „Leergutprämie“. Sie ist Gegenleistung für die ordnungsgemäße Abwicklung des von den belieferten Kunden an den Kläger zurückzugebenden Leerguts und unterliegt daher dem umfassenden Entgeltbegriff des Mindestlohngesetzes (zu einer „Nähprämie“ vgl. BAG 6. September 2017 - 5 AZR 441/16 - Rn. 16).

 

Dabei ist es entgegen der Auffassung des Klägers unerheblich, ob die Beklagte berechtigt ist, Differenzen aus dem Umgang mit Leergut von der Prämie „abzuziehen“. Zwar muss, um mindestlohnwirksam zu sein, die Zahlung des Arbeitgebers dem Arbeitnehmer endgültig verbleiben (BAG 25. Mai 2016 - 5 AZR 135/16 - Rn. 31, BAGE 155, 202). Indes ergibt sich aus dem in der Berufungsverhandlung zu Protokoll erklärten Sachvortrag des Klägers nur, dass er beim Auftreten von Differenzen die Leergutprämie nicht bzw. nicht in voller Höhe erhält. Dass er für den Streitzeitraum bezogene Prämien wegen späterer Leergutdifferenzen zurückzahlen musste oder sich die Beklagte zumindest die Rückzahlung vorbehalten hätte, hat der Kläger nicht vorgebracht.

 

dd) Einer besonderen gesetzlichen Zweckbestimmung unterliegt keine der streitgegenständlichen Prämien.

 

 

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.