Betriebsgefahr des Vorbeifahrenden bei Rückwärtsfahrt aus
Garagenausfahrt
LG Saarbrücken, Urteil vom
20.01.2023 - 13 S 60/22 -
Die Klägerin, deren Geschäftsführer aus einer Garagenausfahrt rückwärts auf die verkehrsberuhigte Straße auffuhr und dort mit dem vorbeifahrenden Beklagtenfahrzeug kollidierte, machte
Schadensersatzansprüche gegen die Beklagten geltend. Nach Behauptung der Klägerin sei das Beklagtenfahrzeug mit überhöhter Geschwindigkeit in ihr Fahrzeug hineingefahren, nach Vortrag der
Beklagten habe das Beklagtenfahrzeug zunächst gestanden, es sei (da eine Personen im anderen Fahrzeug gesehen wurde, die beabsichtigte aus der Grundstück rückwärts herauszufahren) gehupt worden
und langsam wieder angefahren worden; das klägerische Fahrzeug sei dann in das Beklagtenfahrzeug hineingefahren.
Das Amtsgericht (AG) wies die Klage ab. Auf der Berufung wurde ihr zu einem geringen Teil stattgegeben. Richtig sei das Amtsgericht davon ausgegangen, dass beide Parteien grundsätzlich nach §§ 7,
17, 18 StVG für den Unfall einzustehen hätten, da beide Fahrzeuge im Betrieb waren und der Unfall auch nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen sei, ferner der Unfall auch für beide Parteien kein
unabwendbares Ereignis iSv. § 17 Abs. 3 StVG darstelle.
Zu Lasten der Klägerin sei zudem ein Sorgfaltsverstoß beim Rückwärtsfahren einzustellen. Das Berufungsreicht ließ offen, ob dies unmittelbar aus § 9 Abs. 5 StVO (beim Rückwärtsfahren ist eine
Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen) abgeleitet werden könne, da es sich um eine verkehrsberuhigten Bereich handele (§ 42 StVO, Zeichen 325.1/325.2), oder in einem solchen
ähnlich wie auf einem Parkplatz entsprechendes aus dem Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO abzuleiten wäre. Auch im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 2 StVO greife ein Anscheinsbeweis für ein
Verschulden des Rückwärtsfahrenden (BGH, Urteil vom 11..10.2016 - VI ZR 66/16 -). Ferner sei zu Lasten der Klägerin ein Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht aus § 10 StVO (der aus einem
Grundstück Herausfahrende hat sich so zu verhalten hat, dass er andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährdet) zu berücksichtigen.
Ein Überschreiten der zulässigen Geschwindigkeit in einem verkehrsberuhigten Bereich durch das Beklagtenfahrzeug sie nicht festzustellen. Nicht berücksichtigt habe das AG allerdings, dass
der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs die Gefahr erkannt habe: Das mit einer Person besetzte Fahrzeug und dass dieses über kurz oder lang rückwärts ausfahren würde. Deshalb sei auch gehupt
worden. Allerdings hätte in dieser Situation das Klägerfahrzeug weiter beobachtet werden müssen, um bei dessen Zurücksetzen sofort anhalten zu können. Die Beobachtung wurde beim Losfahren
unterlassen, weshalb es auch vorkollisionär nicht zum Stillstand des Beklagtenfahrzeugs gekommen sei.
Damit sei ein Zurücktretend er Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs hinter dem Verschulden der Klägerseite ausgeschlossen. Dahinstehen könne, ob - wie auf Parkplätzen- im verkehrsberuhigten
Bereich die Betriebsgefahr regelmäßig nicht zurücktrete, da Sorgfaltspflichten stärker einander angenähert seien,, indem Kraftfahrer jederzeit auf bevorrechtigten Fußgängerverkehr Rücksicht zu
nehmen hätten, was nur bei Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit und ständiger Bremsbereitschaft möglich sei. Der festgestellte leichte Sorgfaltsverstoß führe zu einer unfallursächlichen Erhöhung
der allgemeinen Betriebsgefahr und rechtfertige im Rahmen des § 17 Abs. 1 StVG eine Mithaftung von 20%.
Tenor
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Homburg vom 16.5.2022 - 4 C 224/20 (10) - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen abgeändert. Die Beklagten werden
verurteilt, an die Klägerin 785,71 € sowie vorgerichtliche Anwaltskosten von 124 € jeweils nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.4.2020 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Klägerin zu 82% und die Beklagten gesamtschuldnerisch zu 18%.
3. Das Berufungsurteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt Schadenersatz im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfallereignis, das sich am 10.3.2010 im ..., einer verkehrsberuhigten Straße, in ... ereignet hat. Zu dem Unfall kam es, als
der Geschäftsführer der Klägerin mit dem Fahrzeug der Klägerin (Mercedes E 320 CDI, ...) aus der Garageneinfahrt seines Wohnhauses (Nr. 11) auf den ... rückwärts ausfuhr und mit dem dort
vorbeifahrenden Beklagtenfahrzeug (Peugeot 206, ...) zusammenstieß.
Der Kläger beziffert seinen Sachschaden mit (3.196,27 € Nettoreparaturkosten + 707,28 € Sachverständigenkosten + 237 € Nutzungsausfall 3 Tage + 25 € Kostenpauschale =) 4.165,55 €, den er nebst
Zinsen und vorgerichtlichen Kosten mit der Behauptung geltend macht, der Erstbeklagte sei mit überhöhter Geschwindigkeit in sein bereits stehendes Kfz hineingefahren.
Die Beklagten sind dem entgegengetreten und haben vorgetragen, der Erstbeklagte habe zunächst auf dem ... gestanden und kurz gehupt, weil er gemerkt hatte, dass in dem bereits sichtbaren Fahrzeug
der Klägerin jemand sitze, der beabsichtige rückwärts aus dem Grundstück herauszufahren. Anschließend sei er mit geringer Geschwindigkeit losgefahren, als das Klägerfahrzeug - ohne dass der
Erstbeklagte dies noch sah - rückwärts aus der Einfahrt in das Beklagtenfahrzeug hineingefahren sei. Der Erstbeklagte habe bis zum Anstoß etwa 10-15 m in sehr langsamer Fahrt zurückgelegt.
Nutzungsausfallentschädigung sei, so die Beklagten, bei fiktiver Abrechnung nicht geschuldet und überdies, da es sich um ein gewerbliches Fahrzeug handele, nicht ersatzfähig.
Das Amtsgericht, auf dessen Ausführungen ergänzend Bezug genommen wird, hat die Klage nach Beweiserhebung abgewiesen. Dem gegen den Geschäftsführer der Klägerin bestehenden Anscheinsbeweis eines
Verstoßes gegen §§ 10, 9 Abs. 5 StVO stehe kein Verkehrsverstoß des Erstbeklagten gegenüber, weil diesem nur eine Geschwindigkeit von 9,6 km/h und damit annähernde
Schrittgeschwindigkeit nachgewiesen werden könne, weshalb die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges zurücktrete.
Mit ihrer Berufung verfolgt die Klägerin ihren Klageantrag weiter. Sie meint, das Erstgericht habe verkannt, dass der Erstbeklagte den Ausfahrvorgang ihres Geschäftsführers frühzeitig hätte
erkennen und durch Abbremsen einen Zusammenstoß vermeiden müssen. Die Beklagten verteidigen die angefochtene Entscheidung.
II.
Die Berufung ist zulässig erhoben. Sie hat auch in der Sache einen geringen Teilerfolg.
1. Das Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Kläger- als auch die Beklagtenseite grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem.
§§ 7, 17, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges
entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellt. Dies ist
zutreffend und wird mit der Berufung auch nicht angegriffen.
2. Soweit das Erstgericht einen Verstoß des Geschäftsführers der Klägerin gegen das Sorgfaltsgebot beim Rückwärtsfahren in die nach § 17 Abs. 1, 2 StVG vorzunehmende Abwägung der
wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile eingestellt hat, begegnet dies im Ergebnis keinen Bedenken. Dabei kann hier dahingestellt bleiben, ob, wie es das Erstgericht angenommen
hat, § 9 Abs. 5 Straßenverkehrsordnung (StVO) unmittelbar zur Anwendung kommt, oder ob sich in einem, wie hier, verkehrsberuhigten Bereich i.S.d. § 42 StVO Zeichen 325.1/325.2 ein
entsprechender Verstoß aus dem allgemeinen Rücksichtnahmegebot des § 1 Abs. 2 StVO ableiten lässt, das etwa auf Parkplätzen, die ähnlich wie ein verkehrsberuhigter Bereich nicht dem
fließenden Verkehr gewidmet sind, heranzuziehen ist (vgl. dazu etwa König in Hentschel u.a., Straßenverkehrsrecht 46. Aufl., § 42 StVO Rn. 181 m.w.N.). Denn auch soweit ein Verstoß gegen
§ 1 Abs. 2 StVO betroffen ist, gilt hier ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden, wenn - wie hier - feststeht, dass das rückwärtsfahrende Fahrzeug im
Kollisionszeitpunkt in Bewegung war (vgl. BGH, Urteil vom 11.10.2016 - VI ZR 66/16, VersR 2017, 186 m.w.N.). Ferner hat das Erstgericht daneben auf Klägerseite einen Verstoß gegen die in
§ 10 StVO festgehaltene Sorgfaltspflicht beim Ausfahren aus einem Grundstück in die Abwägung gestellt. Dies dürfte vor dem Hintergrund der neueren Rechtsprechung des BGH, wonach der
Schutzzweck der Vorschrift nicht allein dem fließenden Verkehr, sondern allen Verkehrsteilnehmern dient, zutreffen. Die Berufung greift dies auch nicht an.
3. Soweit das Erstgericht angenommen hat, dem Erstbeklagten sei allenfalls ein geringfügiger unfallursächlicher Verkehrsverstoß nachzuweisen, begegnet dies ebenfalls keinen Bedenken. Die
beweissicher nachvollziehbare Kollisionsgeschwindigkeit bewegt sich jedenfalls in einem Bereich, der ein Überschreiten der im verkehrsberuhigten Bereich geltenden Schrittgeschwindigkeit, deren
Obergrenze teils bis 7 km/h, teils darüber hinaus bis 10 bzw. 15 km/h gezogen wird (s. den Überblick bei König a.a.O. m.w.N.) nicht, allenfalls geringfügig überschreitet. Soweit die Berufung
meint, der Erstbeklagte habe das ausfahrende Fahrzeug frühzeitig erkennen und durch frühzeitiges Abbremsen den Unfall verhindern können, ist zu berücksichtigen, dass der Sachverständige in seinem
Ergänzungsgutachten und in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ausgeführt hat, bei Einhaltung der Schrittgeschwindigkeit (gemeint ist 4-7 km/h) sei der Unfall bei Zugrundelegung einer
bestimmten Annäherung des Beklagtenfahrzeuges (GA 109, Bl. 28 Gutachten) für den Erstbeklagten vermeidbar gewesen (GA 132). Zwar kann das Annäherungsverhalten des Beklagtenfahrzeuges nicht mehr
hinreichend nachgezeichnet werden, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Beklagtenfahrzeug sich erst beschleunigend bis zur Höhe der Kollisionsgeschwindigkeit dem späteren
Kollisionsort genähert hat, was einem Vermeidbarkeitsnachweis - wie der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat - entgegenstünde. Jedoch ist hier zu berücksichtigen, dass der
Erstbeklagte nach eigener Darstellung bereits die Gefahr erkannt hatte, dass das mit Person(en) besetzte Klägerfahrzeug - über kurz oder lang - rückwärts ausfahren würde, weshalb er vorsorglich
gehupt hatte. Angesichts der so erkannten Gefahr hätte es nahegelegen, beim Losfahren das Klägerfahrzeug weiter zu beobachten, um bei dessen Zurücksetzen notfalls sofort anhalten zu können. Dies
hat der Erstbeklagte nach eigener Darstellung verabsäumt, denn er ist losgefahren, ohne das Klägerfahrzeug weiter zu beobachten und vorkollisionär zum Stehen zu kommen.
4. Dies führt hier insoweit zu einer abweichenden Haftungsverteilung, als die Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs nicht zurücktritt. Dabei kann dahinstehen, ob im verkehrsberuhigten
Bereich - ähnlich wie auf einem Parkplatz - die Betriebsgefahr regelmäßig nicht zurücktritt, weil auch hier die Sorgfaltspflichten stärker einander angenähert sind, indem Kraftfahrer jederzeit
auf den bevorrechtigten Fußgängerverkehr Rücksicht zu nehmen haben (König a.a.O.), was nur mit der Einhaltung von Schrittgeschwindigkeit und stetiger Bremsbereitschaft vereinbar ist. Jedenfalls
führt der leichte Sorgfaltsverstoß auf Beklagtenseite zu einer unfallursächlichen Erhöhung der Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges, die jedenfalls angesichts der einander angenäherten
Sorgfaltspflichten im verkehrsberuhigten Bereich nicht zurücktritt und eine Mithaftung der Beklagten in Höhe von 20% rechtfertigt.
5. Von den geltend gemachten Schäden ist die Nutzungsausfallentschädigung, wie die Beklagten mit Recht eingewandt haben, nicht zu ersetzen. Eine Reparaturdurchführung, die unerlässliche
Voraussetzung auch bei fiktiver Schadensabrechnung ist (statt aller: Geigel/Katzenstein, Der Haftpflichtprozess, 28. Aufl., Kap. 3 Rn. 181, 182; Freymann/Rüßmann in: Freymann/Wellner,
jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 249 BGB (Stand: 13.10.2022), Rn. 222, jew. m.w.N.), ist bereits nicht dargetan.
6. Vor diesem Hintergrund beläuft sich der ersatzfähige Schaden der vorsteuerabzugsberechtigten Klägerin auf unstreitige (3.196,27 € Nettoreparaturschaden + 707,28 € Sachverständigenkosten
+ 25 € Unkostenpauschale =) 3.928,55 €, von dem die Beklagten 20% = 785,71 € zu ersetzen haben. Hinzu kommen Verzugszinsen (§§ 286 f. BGB) sowie vorgerichtliche Anwaltskosten, deren Höhe
sich auf der Grundlage des berechtigten Erstattungsbetrages gemäß §§ 2, 13 RVG, Nrn. 2300, 7002, 7008 RVG VV in Höhe einer 1,3-Geschäftsgebühr (vgl. hierzu zuletzt BGH, Urteil vom 27.05.2014
- VI ZR 279/13, NZV 2014, 507 m.w.N.) auf 104 € zzgl. 20,00 € (Pauschale) = 124 € netto beläuft.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m.
§ 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung
des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).