Räumungsschutz-Verzicht und nachträgliche Gründe, §§ 794a
ZPO, 313 BGB
BGH, Beschluss vom 03.06.2022 -
VIII ZB 44/22 -
Kurze Inhaltsangabe:
Die Beschwerdeführerin (Mieterin) hatte in einem Räumungsrechtsstreit einen gerichtlichen Räumungsvergleich mit der Vermieterseite geschlossen und in diesem eine Räumung zu einem bestimmten
Zeitpunkt vollstreckungsfähig erklärt und auf die Stellung von Räumungsschutzanträgen gem. § 794a Abs. 1, 2 ZPO verzichtet. Allerdings ist die Beschwerdeführerin dann nicht ausgezogen und hat
einen Räumungsvollstreckungsschutzantrag gestellt über den bisher nicht rechtskräftig entschieden wurde (die Rechtsbeschwerde der Beschwerdeführerin gegen die Zurückweisung des Schutzantrages ist
noch beim BGH anhängig). Zur Sicherung ihrer Position (des Besitzes an der Wohnung) stellte die Beschwerdeführerin auch einen Antrag auf einstweilige Aussetzung der Vollziehung des
Räumungsvergleichs, §§ 570 Abs. 3 1. Halbs., 575 Abs. 4, 794 Abs. 1 ZPO. Der vom Amtsgericht abgelehnte Antrag wurde vom BGH als Rechtsbeschwerdegericht bewilligt unter der Voraussetzung der
Zahlung der im Vergleich vereinbarten Bruttomiete durch die Beschwerdeführerin.
Der BGH wies darauf hin, er könne als Rechtsbeschwerdegericht auch im Wege der einstweiligen Anordnung die Vollziehung einer Entscheidung der ersten Instanz aussetzen, wenn dem
Rechtsbeschwerdeführer bei einem Vollzug größere Nachteile drohen würden als dem Gegner, die Rechtsbeschwerde zudem zulässig erscheine und nicht von vornherein ohne Erfolgsaussicht sei.
Hier würden der Beschwerdeführerin bei einer Vollstreckung unwiederbringliche Nachteile durch den Verlust der Wohnung entstehen, vor dem sie in Ansehung eines mittels ärztlichen Attests belegten
Schussverletzung am Kopf drei Monate nach Abschluss des Vergleichs und daraus noch andauernden besonderen persönlichen und gesundheitlichen Situation zu schützen sei. Zwar würde der
Beschwerdegegner nach vorgelegten Unterlagen auch nicht unerhebliche Nachteile im Falle eines Verbleibs der Beschwerdeführerin in der Wohnung erleiden, doch würden die Nachteile der
Beschwerdeführerin vorliegend überwiegen.
Die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde gegen die Versagung des Räumungsschutzes sei form- und fristgerecht eingelegt worden (also zulässig). Es könnten ihr auch Erfolgsaussichten
nicht abgesprochen werden. Die Frage, ob ein Verzicht auf Räumungsschutz nach § 794a Abs. 1, 2 ZPO in einem gerichtlichen Räumungsvergleich wirksam sei und ob er sich auf zum Zeitpunkt des
Vergleichsabschlusses unvorhersehbare und unbekannte Härtegründe beziehe, sei umstritten und höchstrichterlich bisher nicht geklärt (BGH, Beschluss vom 28.10.2008 - VIII ZB 28/08 -). Daher könne
hier ein Erfolg der Rechtsbeschwerde derzeit nicht verneint werden. Es kämen hier unter Umständen die Unwirksamkeit des Verzichts auf Räumungsschutz aus § 313 BGB (Wegfall vorausgesetzter
künftiger Umstände) in Betracht, da nach dem Vortrag der Beschwerdeführerin nicht ausgeschlossen sei, dass die Geschäftsgrundlage aufgrund ihrer nachträglich eingetretenen und unvorhersehbaren
gesundheitlichen Situation entfallen sei.
Aus den Gründen:
Tenor
Die
Zwangsvollstreckung aus dem vor dem Amtsgericht Bremen am 29. September 2021 geschlossenen Räumungsvergleich wird bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde mit der Maßgabe eingestellt, dass
die Zwangsvollstreckung unzulässig bleibt, wenn die Beschwerdeführerin ab Juli 2022 die Zahlung der im Vergleich vereinbarten Bruttomiete an den Beschwerdegegner vornimmt.
Gründe
Das
Rechtsbeschwerdegericht kann im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 570 Abs. 3 Halbs. 1, § 575 Abs. 5 ZPO auch die Vollziehung einer Entscheidung der ersten Instanz
aussetzen, wenn hierdurch dem Rechtsbeschwerdeführer größere Nachteile drohen als dem Gegner, die Rechtsbeschwerde zulässig erscheint und die Rechtsmittel des Rechtsbeschwerdeführers nicht von
vornherein ohne Erfolgsaussicht sind (Senatsbeschlüsse vom 4. Februar 2010 - VIII ZB 84/09, WuM 2010, 252 Rn. 1; vom 18. Mai 2010 - VIII ZB 9/10, GE 2010, 1055; vom 15. November 2011 - VIII ZB
95/11, WuM 2011, 703 Rn. 1; vom 14. Februar 2012 - VIII ZB 3/12, WuM 2012, 158 Rn. 3; vom 28. September 2021 - VIII ZB 43/21, WuM 2022, 57 Rn. 1 mwN). Entsprechendes gilt, wenn die Vollstreckung
eines von der ersten Instanz protokollierten Räumungsvergleichs droht (§ 794a Abs. 1 ZPO). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Durch
die Vollstreckung des Räumungsvergleichs würde der Beschwerdeführerin ein unwiederbringlicher Nachteil entstehen. Nach den von der Rechtsbeschwerde vorgelegten Unterlagen befürchtet der
Beschwerdegegner zwar ebenfalls nicht unerhebliche Nachteile im Falle des vorläufigen Verbleibens der Beschwerdeführerin in der Wohnung. Jedoch überwiegen diese Nachteile nicht die von der
Beschwerdeführerin zu vergegenwärtigenden Nachteile. Diese sieht sich einem nicht rückgängig machbaren Verlust der Mietwohnung ausgesetzt. Vor einem solchen Verlust ist sie einstweilen aufgrund
ihrer durch die - mittels ärztlicher Atteste belegte - drei Monate nach Abschluss des Räumungsvergleichs erlittene Schussverletzung am Kopf hervorgerufenen und noch andauernden besonderen
persönlichen und gesundheitlichen Situation zu schützen.
Der
nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO statthaften, frist- und formgerecht eingelegten Rechtsbeschwerde ist in der Sache eine Erfolgsaussicht nicht abzusprechen. Das
Beschwerdegericht hat die Rechtsbeschwerde vor dem Hintergrund zugelassen, dass die Fragen, ob der in einem Räumungsvergleich erklärte Verzicht des Mieters auf Räumungsschutzanträge (§ 794a
Abs. 1, 2 ZPO) wirksam ist und ob er sich gegebenenfalls auch auf unvorhersehbare und unbekannte Härtegründe erstreckt, umstritten sind und höchstrichterlich noch keine Klärung erfahren
haben (vgl. Senatsbeschluss vom 28. Oktober 2008 - VIII ZB 28/08, NJW-RR 2009, 422 Rn. 5). Angesichts dessen kann die Erfolgsaussicht der Rechtsbeschwerde derzeit nicht verneint werden.
Je nach
Beurteilung dieser Rechtsfragen könnte - wie die Rechtsbeschwerde geltend macht - unter Umständen eine Unwirksamkeit des Verzichts auf Räumungsschutz aus § 313 BGB (Wegfall vorausgesetzter
künftiger Umstände) in Betracht kommen. Denn die Beschwerdeführerin hat in der Beschwerdeinstanz Tatsachen vorgetragen, die es als nicht ausgeschlossen erscheinen lassen, dass die
Geschäftsgrundlage aufgrund ihrer nachträglich eingetretenen und unvorhersehbaren gesundheitlichen Situation entfallen ist.